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Braucht unsere Demokratie ein Update?

Kann unsere Demokratie die Pandemie überleben?

Diese Frage stellten sich viele Beobachter im Frühjahr 2020, als Regierungen gezwungen waren, drastische Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zu ergreifen. Zwei Jahre später stellen wir fest, dass die europäische Demokratie zwar nicht untergegangen ist, doch dass die Pandemie einige schwere Verletzungen hinterlassen hat und Putins Krieg in der Ukraine die Demokratie noch mehr auf die Probe stellt. In den vergangenen zwei Jahren hat die Europäische Union mit der Konferenz über die Zukunft Europas (CoFoE) eine beispiellose deliberative Demokratieübung gestartet, um die Bürger in die europäische Politik einzubinden und ihnen Europa näher zu bringen.

Was denken unsere Leserinnen und Leser?

Wir haben uns mit der ZEIT-Stiftung zusammen getan und beim diesjährigen EuropaCamp ein Panel mit dem Titel „Does Democracy need a Makeover?“ organisiert, bei dem drei tolle Expertinnen und Experten EURE Fragen und Kommentare diskutiert haben!

Den ersten Kommentar hat uns Leserin Carlotta geschickt:

💬 Bürgerbeteiligung ist sicherlich die Zukunft der Demokratie! Zwischen den Wahlen gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten, sich wirklich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Deshalb denke ich, dass Projekte wie die Konferenz über die Zukunft Europas nicht nur einmal stattfinden sollten, sondern dass sie zu einer ständigen Einrichtung werden sollten.

Sollte die Konferenz über die Zukunft Europas eine ständige Einrichtung sein?

Wie sehen die Demokratie-Expert:innen das? Sarah Händel hat einen Hintergrund in Politikwissenschaft und Friedensforschung und ist Vorstandsmitglied von Mehr Demokratie. Mit Mehr Demokratie startet sie Initiativen zur Erneuerung der Demokratie, um sie inklusiver, direkter, offener und produktiver zu machen. Mit diesem Ziel hat Mehr Demokratie den Weg für die Einführung von zufällig gewählten Bürgergremien auf Bundesebene geebnet. Was antwortet Sarah unserer Leserin Carlotta? Die gesamte Debatte könnt ihr im Video oben verfolgen.

💬 Bürgerversammlungen sind ein gutes Instrument, um Menschen zusammenzubringen. Das ist wirklich etwas, was unsere Demokratie im Moment braucht: Raum zu schaffen für Menschen, die so zusammenkommen, wie sie sind. […]

Bürgerversammlungen sollten auf EU-Ebene eine ständige Einrichtung sein. Diese Versammlungen bringen wirklich gute Ergebnisse hervor, aber wie werden sie umgesetzt? […] Wir sehen das jetzt mit der Konferenz über die Zukunft Europas. Wir haben einige wirklich gute Ergebnisse, die von den Bürger:innen ausgearbeitet wurden. Aber es gibt nicht große Chancen, dass sie tatsächlich umgesetzt werden. Einige von ihnen, ja. Aber die, die wichtiger sind, werden wahrscheinlich nicht umgesetzt werden. Wir sollten uns also jetzt eine Struktur überlegen, die eine permanente Bürgerbeteiligung sicherstellt, aber auch sicherstellt, dass sie etwas verändern. Das ist noch eine viel größere Frage. […]

Aber es wird nicht ausreichen, nur ständige Bürgerversammlungen einzuführen. Wir denken, es ist der perfekte Zeitpunkt in der Geschichte, um Europa eine ganz neue Verfassung zu geben. Wenn man Europa eine neue Verfassung gibt, kann man strukturell darüber nachdenken, welche Mittel für die Bürgerbeteiligung nützlich sind und wie man sie in das Gesamtkonstrukt auf europäischer Ebene einbaut. Das muss sorgfältig und gründlich überlegt werden. Wir sind der Meinung, dass es einen einjährigen Prozess geben sollte, in dem direkt gewählte Personen zusammen mit den Bürgern eine völlig neue Verfassung ausarbeiten können. Mit einem solchen Prozess kann man die Menschen in die Erneuerung Europas einbinden und gleichzeitig werden sie viele Instrumente der Beteiligung vorschlagen.

Brauchen wir mehr direkte Demokratie in der EU?

Unser Leser Stadex hat einen weiteren konkreten Lösungsvorschlag für Europas Demokratiedefizit:

💬 Ich denke, Europa braucht mehr direkte Bürgerbeteiligung. Als Schweizer habe ich Erfahrung mit Referenden und Volksinitiativen. Ich denke, dass die direkte Demokratie der repräsentativen Demokratie nicht schadet, sondern sie vervollständigt. In meinem Land wissen die Politiker, dass die Bürger, wenn sie ein Gesetz verabschieden, dieses zurückrufen können, wenn sie mit dem Gesetz nicht einverstanden sind, und das führt zu mehr Kompromissen.

Also, brauchen wir mehr direkte Demokratie in der EU? Wie sieht Helene von Bismarck das?

Helene von Bismarck ist Historikerin, Journalistin und Visiting Research Fellow am Centre of British Politics and Government am King’s College, London, sowie Fellow der Royal Historical Society. In den letzten Jahren konzentrierte sich ihre Arbeit auf den Brexit, den Aufstieg des Populismus in Europa und die Rolle der Geschichte in den internationalen Beziehungen. Stimmt sie Stadex zu? Die gesamte Debatte könnt ihr im Video oben verfolgen.

💬 Ich würde Stadex nicht zustimmen. Volksabstimmungen über große Fragen wie den Austritt aus der Europäischen Union oder den Austritt aus dem Vereinigten Königreich, wie es einige Leute in Schottland wollen, halte ich für eine schreckliche Idee, weil sie dem Populismus, der Demagogie, der Vereinfachung und der Verinnerlichung Tür und Tor öffnet. Wenn ein Referendum so tut, als ginge es nur um ein Ja oder Nein, hat das viele Konsequenzen. Denn sobald die Antwort da ist – wie bei der Abstimmung im Vereinigten Königreich – beginnen die Probleme und die Frage ist: ‚Wie setzt man das Ganze jetzt um?‘

Aber ich verstehe und respektiere Stadex‘ Standpunkt zum Schweizer Beispiel. Es funktioniert anders [als das Brexit Referendum], da man dort über bestimmte Gesetze abstimmt.

Wenn wir über eine Erneuerung der Demokratie sprechen, beginnt es meiner Meinung nach damit, dass wir uns alle zu engagierteren Demokraten entwickeln sollten. Es geht nicht so sehr um das System, sondern darum, dass wir an diesem System teilnehmen. Es geht um Engagement, Bildung, Beteiligung und Dialog. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass Bürgerversammlungen auf europäischer Ebene dauerhaft eingerichtet werden sollten.

Seit der Pandemie sind wir an Online-Foren gewöhnt, und alles, was wir dort tun können, um die Menschen zu ermutigen, sich zu informieren, ist fantastisch. Aber, vor allem wegen der Pandemie, mache ich mir Sorgen, dass wir uns zu wenig von Angesicht zu Angesicht treffen. Das persönliche Gespräch ist durch nichts zu ersetzen, und wir brauchen mehr davon. […] Es ist enorm wichtig, dass man versucht, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen.

[Gesellschaftliche Spaltungen zu überbrücken] ist ein Balanceakt. Einerseits möchte man natürlich die Kluft überbrücken und sich mit der anderen Seite auseinandersetzen – und das ist enorm wichtig -, aber was wir in den letzten Jahren vor allem in den Medien in verschiedenen Kontexten gesehen haben, ist die Gefahr der Parteilichkeit und der falschen Gleichwertigkeit. So gibt es auf der einen Seite eine ziemlich extreme Position wie „Corona ist ein Schwindel“ und auf der anderen Seite die Position eines Epidemiologen, der sich seit 20 Jahren damit beschäftigt. [Wenn die Medien] diese beiden Personen im Fernsehen zusammenbringen und dies als eine gleichberechtigte Debatte darzustellen und der Moderator versucht, eine gemeinsame Basis in der Mitte zu finden, dann muss man sich darüber klar sein, dass die Mitte nicht unbedingt die Wahrheit ist.

Wie können wir die Demokratie für Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften zugänglicher machen?

Als letztes fragt Leser Paolo:

💬 Wie können wir die Demokratie für Menschen aus marginalisierten Gemeinschaften zugänglicher machen? Menschen aus historisch ausgegrenzten Gruppen sind oft von Prozessen ausgeschlossen oder fühlen sich nicht sicher, sich zu beteiligen.

Wie können wir eine Demokratie aufbauen, in die alle einbezogen sind? Diese Frage haben wir an Alberto Alemanno gestellt. Die gesamte Debatte könnt ihr im Video oben verfolgen.

Alberto Alemanno ist Jean-Monnet-Professor für Recht und öffentliche Ordnung an der HEC Paris und eine der führenden Stimmen in der Demokratisierung der Europäischen Union. Alberto ist Gründer und Direktor von The Good Lobby, einem gemeinnützigen Bürger-Startup, das eine Bewegung für ethisches, verantwortungsbewusstes und nachhaltiges Lobbying mit Büros in Brüssel, Paris und Mailand ins Leben gerufen hat. Was würde er Paolo antworten?

💬 Im Laufe der Jahre haben wir die Entstehung einer Vielzahl von Beteiligungsmöglichkeiten erlebt, auch auf europäischer Ebene. Wir haben das Petitionsrecht, wir haben die europäische Bürgerinitiative, wir haben öffentliche Konsultationen. All diese Formen der Beteiligung sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene setzen voraus, dass alle Menschen über die gleichen Fähigkeiten in Bezug auf Wissen, Ressourcen und Bildung verfügen, die es ihnen ermöglichen, mitzureden. Und das ist offensichtlich falsch!

Wir müssen uns von dem, was ich als formales Verständnis des Gleichheitsgrundsatzes bezeichne, entfernen und den Gleichheitsgrundsatz in einer substantielleren Weise verstehen. Das bedeutet im Grunde, dem Staat und den europäischen Institutionen eine verfahrensrechtliche Verpflichtung aufzuerlegen, sich besonders darum zu bemühen, dass jeder tatsächlich gehört werden kann. Und diese Verlagerung von der formalen zur inhaltlichen Gleichstellung erfordert eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit, nicht nur für die Behörden selbst, sondern auch für viele andere Akteure.

Und es gibt einen Punkt, der meiner Meinung nach besonders in diesen Tagen nach der russischen Invasion in der Ukraine ein großes Problem darstellt: „Welche Rolle spielt der private Sektor, die Wirtschaft im politischen Engagement? Wir alle wissen, dass 78 % der Treffen unserer Politiker mit Wirtschaftsvertretern stattfinden, wenn man sich die Statistiken ansieht. Und nur eine Minderheit von 15 bis 20 % der Treffen findet tatsächlich mit Verbänden statt, die die Zivilgesellschaft vertreten. Wie können wir also den Zugang zur Macht ausgleichen? Welche Methoden können wir anwenden?

Sicherlich sollten wir etwas kreativer werden und versuchen, diese Verantwortung zwischen den Behörden aufzuteilen. Wir sollten diesen zusätzlichen Schritt machen, der nicht unbedingt ein hohes Maß an Bildung voraussetzt, um an der öffentlichen Konsultation teilzunehmen, sondern auch von Unternehmen. Sie alle sollten endlich eine Rolle spielen, anstatt die kritische demokratische Infrastruktur der Europäischen Union oder unserer Nationalstaaten als Trittbrettfahrer zu nutzen und ihren Beitrag zu leisten.

Wenn wir nicht diesen zusätzlichen Anstoß von unten nach oben geben und den privaten Sektor einbeziehen, können wir nicht alle an Bord holen. Das ist der Schlüssel, denn es ist sehr einfach, in der Zeit zwischen den Wahlen zu einer großen Beteiligung aufzurufen. Wenn aber nur die üblichen Verdächtigen oder die sozioökonomisch besser Gestellten vertreten sind, riskieren wir wiederum eine andere Form der Überrepräsentation. Wir wissen heute, dass diejenigen, die tatsächlich wählen gehen, bereits leicht über dem Durchschnitt liegen, was ihre Sozioökonomie, ihre Bildung, ihren Bildungsstand und auch ihre Konsumkraft betrifft. Wir müssen vermeiden, den Fehler zu begehen, die Wahlbeteiligung einfach so zu forcieren, wie sie ist, sondern wir müssen versuchen, die Wahlbeteiligung zwischen den verschiedenen Interessen und Gruppen der Gesellschaft auszugleichen.

Braucht unsere Demokratie ein Update?

Sind Bürgerversammlungen die Zukunft der Demokratie? Oder brauchen wir mehr Referenda und direkte Demokratie? Und wie machen wir unsere Demokratie möglichst inklusiv? Schreib uns einen Kommentar und wir leiten ihn an Politiker:innen und Expert:innen weiter!

Foto: Conference on the Future of Europe, European Citizens‘ Panels

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